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Warum Reden alleine nicht hilft

  • Autorenbild: Michi To
    Michi To
  • 16. Juli 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 29. Jan.

Eine Klientin fragte mich gestern, warum es nicht genügt, einfach nur über ein Trauma zu sprechen, um es zu verarbeiten. Das ist eine sehr gute Frage, die die komplexe Natur von Trauma in einem Satz auf den Punkt bringt.


Ganz allgemein gesagt, wird Trauma nicht nur im Geist, sondern auch in unserem Körper und Nervensystem gespeichert. Es ist nicht das Ereignis selbst, sondern die Art und Weise, wie unser Nervensystem darauf reagiert, die langfristigen Auswirkungen hinterlässt.


Trauma und das Nervensystem

Traumatische Erfahrungen aktivieren unser Nervensystem und lösen spezifische Reaktionsmechanismen aus: Flucht, Kampf oder – wenn diese Optionen nicht möglich sind – Erstarren. Diese Reaktionen sind natürliche Schutzmechanismen, die uns helfen sollen, mit überwältigenden Situationen umzugehen. Doch wenn diese Reaktionen nicht richtig verarbeitet werden, kann das Nervensystem „hängen bleiben“ und uns in einem Zustand der Daueranspannung oder Übererregung halten.


Das Erstarren, etwa, führt oft zu einem Verlust des Kontakts zu sich selbst und zur Außenwelt. Es ist, als würde das Nervensystem in einer Art „Handbremse“ feststecken. In solchen Momenten können Teile unseres Selbst abgespalten oder dissoziiert werden – eine Art Selbstschutz.


Warum reicht es nicht, nur zu sprechen?

Trauma ist nicht nur das Resultat von extremen Ereignissen wie Autounfällen, Vergewaltigungen oder Naturkatastrophen. Es kann auch durch subtile, aber dennoch tiefgreifende Erfahrungen entstehen – wie das Aufwachsen in ständiger Unsicherheit, ohne emotionale Co-Regulierung, oder in einem Umfeld, in dem das Ausdrücken von Gefühlen entweder gefährlich oder unerwünscht war. Diese fehlende Unterstützung kann ebenfalls traumatische Strukturen hinterlassen.


Auch wenn wir das Trauma in Gesprächen beschreiben und verstehen, bleibt das Nervensystem oft weiterhin in einem dysregulierten Zustand. Es ist wie bei einem Auto, das mit angezogener Handbremse fährt – egal, wie viel wir über den Zustand des Autos sprechen, es wird sich nicht ändern, bis wir die Handbremse lösen.


Die Auswirkungen von Trauma

Die Folgen eines Traumas sind oft vielschichtig und zeigen sich in Symptomen wie:

  • Über- oder Untererregung

  • Flache Atmung und ständige Anspannung

  • Psychosomatische Beschwerden

  • Vermeidungsverhalten

  • Fehlender Kontakt zum eigenen Körper oder zu Gefühlen

  • Gefühllosigkeit, Depressionen, Ängste


Ein weniger oft genannter, aber ebenso wichtiger Effekt von Trauma ist die Veränderung des Selbstbildes. Traumatische Erfahrungen können das Bild, das wir von uns selbst haben, tiefgreifend verzerren. Wir nehmen uns dann möglicherweise als weniger wertvoll, als unzulänglich oder als unfähig wahr, uns selbst zu vertrauen. Diese negativen Selbstwahrnehmungen sind oft unbewusst und tief in unserem Körpergedächtnis verwurzelt, was die Verarbeitung zusätzlich erschwert.


Diese Symptome sind nicht einfach „psychologische Probleme“, sondern Ausdruck der anhaltenden Dysregulation des Nervensystems und der tiefgreifenden Veränderungen im Selbstbild.


Was braucht es, um Trauma zu verarbeiten?

Die Verarbeitung von Trauma erfordert mehr als nur das Sprechen über das Erlebte. Hier sind einige entscheidende Schritte, die notwendig sind, um das Nervensystem zu regulieren und tiefere Veränderungen zu ermöglichen:


  1. Kontakt und wertschätzende Bindungserfahrungen

Trauma entsteht oft in Momenten, in denen wir keine sichere Bindung oder wertschätzende Unterstützung erfahren haben. Wertschätzende Beziehungen sind daher ein zentraler Bestandteil des Prozesses. Durch verlässliche, mitfühlende Beziehungen können wir lernen, unser Nervensystem zu beruhigen und neue, gesunde Bindungserfahrungen zu machen.


  1. Langsamkeit und Achtsamkeit

Traumatische Erlebnisse sind häufig mit schnellen, überwältigenden Gefühlen und dem Verlust von Kontrolle verbunden. Um mit diesen Erfahrungen umzugehen, braucht es Zeit – einen langsamen, achtsamen Prozess, in dem der Körper und das Nervensystem Schritt für Schritt reguliert werden können.


  1. Fokus auf das Hier und Jetzt

Teile unseres Nervensystems bleiben durch Trauma in der Vergangenheit „hängen“. Achtsamkeit und therapeutische Begleitung können dabei helfen, diese Verstrickungen im Körper zu lösen und das Nervensystem wieder ins Hier und Jetzt zu bringen.


  1. Arbeit an inneren Glaubenssätzen und Identifikationen

Traumatisierte Menschen entwickeln oft negative Glaubenssätze und Identifikationen, wie etwa das Gefühl, „nicht genug zu sein“. Diese Muster können uns daran hindern, uns selbst mit Mitgefühl und Achtsamkeit zu begegnen. Der Weg zur Veränderung dieser inneren Muster erfordert, dass wir diese alten Überzeugungen erkennen und hinterfragen.


  1. Kontaktaufbau mit dem Körper und den Gefühlen

Unser Körper speichert das Trauma. Eine langsame und achtsame Annäherung an unsere Gefühle und körperlichen Empfindungen ist entscheidend, um das Nervensystem zu stabilisieren. Es braucht Zeit, um die im Körper gespeicherte Energie zu integrieren und zu transformieren. Dringende Erwartungen an schnelle Veränderungen sind kontraproduktiv.


  1. Benennen und Bezeugen von Erlebtem

In einem sicheren Raum können wir das, was wir erlitten haben, benennen und bezeugen. Nur so kann es ins Bewusstsein integriert und verarbeitet werden. Diese Anerkennung und das „Sehen“ dessen, was war oder was gefehlt hat, sind essenziell für den Prozess.


  1. Ressourcenarbeit und Stabilisierung bei komplexeren Traumata

Bei tiefgreifenden Traumatisierungen ist es oft notwendig, zunächst Ressourcen und Stabilität aufzubauen, bevor eine tiefere Bearbeitung der traumatischen Erlebnisse möglich ist.


Fazit

Die Verarbeitung von Trauma ist ein individueller Prozess, der Zeit, Geduld und einen sicheren Raum erfordert. Es reicht nicht, einfach über das Erlebte zu sprechen – es braucht einen ganzheitlichen Ansatz, der Körper, Geist und Nervensystem umfasst. Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, dass sich durch Trauma nicht nur unser Verhalten oder unsere Emotionen verändern können, sondern auch unser Selbstbild.


Wenn du dich in einigen der beschriebenen Symptome wiedererkennst oder Fragen hast, zögere nicht, dich mit mir in Verbindung zu setzen. Jeder Prozess ist einzigartig, und du musst ihn nicht alleine gehen.


Weiterführende Literatur

  • Das Trauma in Dir von Bessel van der Kolk

  • Trauma und Gedächtnis von Peter Levine

  • Entwicklungstrauma heilen von Laurence Heller


Bitte beachte, dass meine Beiträge kein Heilversprechen darstellen. Jeder therapeutische Prozess ist individuell und hängt von vielen inneren und äußeren Faktoren ab.


ree


 
 
 

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©2020 Michaela Tomazin

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